Die Schrift der alteuropäischen Vinča-Kultur Donau-Kultur, 6.-3. Jahrtausend v. Chr. |
Die Vinča- oder Donau-Kultur ersteckte sich vom 6. bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. im Südosten Europas entlang des Donaubeckens, im Gebiet des heutigen Rumänien, Serbien, Bulgarien und Mazedonien. Benannt nach dem 14 km östlich von Belgrad gelegen Fundort Vinča gilt sie heute als eine der ältesten Zivilisationen der Menschheit. Die neolithische Vinča-Zivilisation zeichnet sich durch eine vielgestaltige, religiöse Symbolik aus, wie sie aus Kultgegenständen und Votivgaben rekonstruiert werden konnte. Oft sind diese mit einer Vielzahl geometrischer Muster verziert, wobei sich bestimmte Gruppen von Artefakten dadurch abheben, dass ihre unregelmäßig asymmetrischen Verzierungen als Schriftzeichen und nicht nur als blosses Ornament ausgewiesen werden. Allerdings ist die Interpretation als ältestes bekanntes Schriftsystem der Welt aufgrund der wenigen Fundstücke, der Kürze der Zeichenreihen (85% der Funde bestehen aus nur einem Zeichen) und aufgrund des Mangels an wiederholten Symbolen nicht unumstritten. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Vinča-Schrift bis heute nicht entziffert; aber sie weist bedeutende Parallelen zu der Schrift "kretisch linear A" auf, die mit den späteren Schriften des kretisch-mykenischen Kulturbereichs nur wenige Gemeinsamkeiten hat und ebenfalls noch nicht entziffert wurde. |
1875 entdeckten Archäologen bei Ausgrabungen in Turdas (Rumänien) eine Menge von Gegenständen mit Darstellungen bisher unbekannter Symbole. Ein ähnlicher Fund gelang 1908 in Vinča, einem Vorort von Belgrad, etwa 120 km von Turdas entfernt. Später fand man unter anderen weitere solche Fundstücke in Banjica bei Belgrad. Bis heute wurden mehr als Tausend Stücke mit derartigen Zeichnungen gefunden, auf verschiedenen Ausgrabungsstätten in Süd-Ost-Europa, besonders in Griechenland, in Bulgarien, in Rumänien, im Osten Ungarns, in Moldawien, im Süden der Ukraine und Gebieten des ehemaligen Jugoslawien. |
Die meisten der Zeichnungen befinden sich auf keramischen Objekten, kleinen Figuren und auf wenigen anderen Objekten. Die Zeichnungen bestehen aus abstrakten Symbolen (Kreuze, Striche etc.), Piktogrammen (z.B. tierähnliche Abbildungen) und Kamm- oder Bürstenmuster. Der geringere Teil der Objekte enthält mehrere Symbole, die nach keinem bis heute erkennbaren Prinzip angeordnet sind. Eine deutliche Tendenz zeigt sich darin, dass Zeichen, die für sich alleine stehen, sich meistens auf Töpferware befinden, Symbol-Gruppen auf spiralförmigen Linien. |
Die Bedeutung der Funde besteht darin, dass sie auf über 1000 Jahre vor der Entstehung der Schrift der Sumerer datiert werden, die bislang als die älteste Schrift galt. Eine Gegenüberstellung der Symbole mit Schriften aus dem Nahen Osten ergibt, dass die Zeichen unabhängig von der sumerischen Zivilisation entstanden. Einige Ähnlichkeiten lassen sich zu Symbolen anderer neolithischen Zeichensysteme feststellen, die in Ägypten, Kreta und auch in China gefunden wurden. Chinesische Wissenschaftler legen nahe, dass solche Zeichen einige Kulturen unabhängig voneinander hervorbrachten. Sie stellen eine hinführende Entwicklung auf das dar, was man einen Vorläufer der Schrift nennen könnte. Obwohl insgesamt eine große Anzahl von Symbolen gefunden wurde, bestehen die meisten Funde aus wenigen Symbolen beieinander, so dass es unwahrscheinlich ist, das sie einen komplexen Text repräsentieren. Die möglicherweise einzige Ausnahme ist ein nahe Sitovo (Bulgarien) gefundener Stein mit etwa 50 Zeichen. Von der strittigen Datierung abgesehen, ist nicht feststellbar, ob die Zeichen überhaupt schriftliche Informationen darstellen. |
Sinn und Zweck der Symbole sind immer noch ein Geheimnis. Ob es sich um ein Schrift-System handelt oder nicht, ist nicht klar. Wenn ja, ist die Frage, ob es Logogramme, Silbenzeichen, oder alphabetische Zeichen sind. Versuche, die Symbole zu entschlüsseln, führten bis heute nicht zu allgemein akzeptierten Ergebnissen. Zuerst nahm man an, dass die Zeichen nicht mehr als Eigentümer-Symbole waren (etwa wie Brandzeichen). Ein prominenter Vertreter dieser Meinung ist der Archäologe P. Biel. Diese Theorie wurde weitestgehend aufgegeben, da gleiche Symbole im ganzen Gebiet der Vinča-Kultur gefunden wurden, teilweise hunderte Kilometer und Jahre voneinander entfernt. Die vorherrschende Theorie nimmt an, dass die Symbole in einer Landwirtschaft betreibenden Gesellschaft religiösen Zwecken dienten. Demnach wurden die Symbole über Jahrhunderte mit nur geringen Änderungen eingesetzt. Kultur und Riten, welche die Symbole repräsentieren, sind demnach ebenfalls für sehr lange Zeit konstant geblieben, scheinbar ohne Anlass zu weiterer Entwicklung. Die Benutzung der Zeichen scheint am Beginn der Bronzezeit aufgegeben worden zu sein (zusammen mit den Gegenständen, auf denen sie erschienen). Die neue Technologie brachte vermutlich einschneidende soziale und religiöse Veränderungen mit sich. Ein Argument für eine kultische Bedeutung der Zeichen ist, dass die Objekte, auf denen sie sich befinden, gewöhnlich in Gruben und anderen Abfallstellen gefunden werden, so dass sie keine dauerhafte Bedeutung für ihre Eigentümer gehabt haben zu scheinen. Bestimmte Gegenstände, hauptsächlich kleine Statuen, wurden häufig unter Häusern vergraben gefunden. Das spricht für die Annahme, das sie für das Haus betreffende religiöse Zeremonien angefertigt wurden, in dem Zeichen eingeschnitten wurden, die Wünsche, Hoffnungen oder Sonstiges symbolisierten. Nach der Zeremonie hatten die Gegenstände entweder keine weitere Bedeutung oder wurden rituell begraben (was einige als Weihopfer interpretieren). Einige der sog. Kamm- und Bürstensymbole, die zusammen etwa ein Sechstel aller bis jetzt entdeckten Symbole ausmachen, könnten Zahlen darstellen. Wissenschaftler weisen darauf hin, das ein Viertel der Zeichen sich am Boden von keramischen Gefäßen befinden, eine für religiöse Symbole nicht naheliegende Stelle. Die Vinča-Kultur scheint ihre Waren durch Handel mit anderen Kulturen weit verbreitet zu haben, was durch das ausgedehnte Gebiet angezeigt wird, in dem die beschrifteten Gefäße gefunden wurden. So wäre es möglich, dass die Zeichen als Zahlen-Symbole Aussagen über den Wert der Gefäße oder deren Inhalt machten. Andere Kulturen wie die minoische und die sumerische benutzten ihre Schriften ursprünglich zu Verwaltungszwecken. Die Vinča-Symbole mögen einen ähnlichen Zweck gehabt haben. Weitere Symbole, hauptsächlich solche, die sich nur auf dem Boden von Gefäßen befinden, sind völlig einmalig. Solche Symbole bezeichneten vielleicht den Inhalt, Herkunft oder Ziel, den Hersteller oder Eigner der Gefäße. |
Die Vinča-Zeichen haben nicht soviel Aufmerksamkeit der Linguistik auf sich gezogen, wie andere bekannte, nicht entzifferte Schriften, z.B. Linear-A oder das Rongorongo der Osterinseln. Trotzdem war das Material dazu in der Lage einige Kontroversen auszulösen. Zu den Hauptverfechtern der Meinung, bei den Zeichen handle es sich um eine Schrift, gehörte Marija Gimbutas (1921- 1994), eine bedeutende Archäologin des vergangenen Jahrhunderts, die auch den Begriff ,alteuropäische Schrift' prägte. Sie war auch Hauptvertreterin der Meinung, dass die zentralasiatische Kurgan-Kultur eine frühe Indoeuropäische Kultur war. In ihrem späteren Leben wandte sie sich der Rekonstruktion einer präindoeuropäischen Kultur zu. Sie nannte sie die ,alte europäische Kultur' und dachte sie sich als den größten Teil Europas umspannend. Sie beobachtete, dass neolithische europäische Ikonographie vorwiegend weiblich war, ein Trend, der sich auch in kleinen Figuren der Vinča-Kultur zeigt, und schloss daraus die Existenz einer matriarchalischen Kultur, die eine universale Muttergöttin verehrte. Sie integrierte die Vinča-Zeichen in das Modell ihres ,alten Europa' mit dem Anspruch, sie seien ein Schriftsystem einer hypothetischen ,alteuropäischen' Sprache. Viele Archäologen und Linguisten stimmen der Interpretation der Vinča-Zeichen von M. Gimbutas als Schrift nicht zu. Es bleibt derzeit unter den Gelehrten allgemein anerkannt, dass sie sumerische Keilschrift die früheste Form der Schrift darstellt. Eine nur vereinzelt kontrovers diskutierte Theorie stammt von Dr. Radivoje Pesic, Belgrad. In seinem Buch ,The Vinca-Alphabet' vertritt er die These, dass alle Vinča-Symbole im etruskischen Alphabet enthalten und umgekehrt, alle etruskischen Zeichen unter den Vinča- Symbolen zu finden seien. Diese Behauptung wird von den Wissenschaftlern derzeit nicht ernst genommen, sie hingegen weisen darauf hin, dass das etruskische Alphabet vom west-griechischen und dieses vom phönizischen Schriftsystem abstammt. Dies ist allerdings nicht völlig unvereinbar mit Pesic's Sicht, wenn er behauptet, dass das phönizische System von dem der Vinča-Kultur abstammt. Pesic's Kritiker unterstellen ihm, dass seine Unterstützung für die ,Kontinuitätstheorie' nationalistische Motive hat. Diese Kontinuitätstheorie nimmt eine viel frühere Präsens der Slawen auf dem Balkan an, als die allgemein akzeptierte Datierung. Daher z.B. auch seine Behauptung, Homer müsse einen slawischen Dialekt gesprochen haben. (Pesic, 1989) |
Literatur: Chadwick, J.: Linear B and related scripts. London: British Museum Publications, 1987. Chapman, J. L.: The Vinca culture of South-East Europe: studies in chronology, economy and society. Oxford: British Archaeological Reports, 1981. Haarmann, H.: Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt a. M./New York, 1990. Pesic, R.: The Vincha Script, ISBN 86-7540-006-3. Winn, S. M. M.: Pre-writing in Southeastern Europe: the sign system of the Vinca culture, ca. 4000 B.C.. Calgary, 1981. Winn, S. M. M.: The Signs of the Vinca Culture: An Internal Analysis; their Role, Chronology and Independence from Mesopotamia. Ann Arbor, Michigan, 1986 (gedruckte Fassung einer maschinenschriftlichen Dissertation von 1973.) |